LUCKENWALDE | 45, 82, 64, 67? Was auf den ersten Blick nach Mathematik zu klingen scheint, hat zwar mit Zahlenlehre zu tun, ist jedoch vor allem Kunst. Bei Annette von der Bey folgt die nämlich einer strengen Logik. Die [...] Künstlerin, die […] jetzt in der Kunsthalle Vierseithof in Luckenwalde in einer Einzelausstellung mit dem Titel „Vermessene Zeit“ ihre Arbeiten zeigt, nummeriert die meisten ihrer Bilder.
Allein das könnte man bereits als Hinweis auf ihre konzeptionelle Arbeitsweise deuten. Doch von der Bey [...] setzt die Werke auch aus Einzelteilen zusammen.
Im Großen wie im Kleinen. Und auch hier geht sie ziemlich mathematisch vor. Auf manchem Gemälde ordnet sie ihre Motive in einem Raster an. Das lässt an
wissenschaftliche Versuchsanordnungen, an systematisches Forschen oder an Sammlungskästen in Museen denken.
Alles hat - oder bekommt - bei von der Bey seinen Platz.
Selbst im scheinbaren Chaos, in der überbordenden Fülle der Motive im Bild mit der Nummer „45“ sitzt alles am richtigen Fleck: Auf den 13 Tafeln sehen wir
allerlei Rundes in Einheitsgröße - Beeren, Wollknäuel, Dahlienblüten und Lampionblumen, Rot- und Weißkohl, Zwiebeln und Tomaten, Glöckchen, Weihnachtsbaum-,
Eis- und andere Kugeln. So sortiert, ja „vermisst“ die Künstlerin die Welt, legt in ihren Bildern eigene Ordnungssyteme an.
Sie malt die Gegenstände dabei genüsslich aus, widmet sich mit Akribie den Details, Form, Farbe und Oberfläche. Und doch ist, was sie malt, nicht allein Dekor.
Das Werk enthält zahlreiche kunsthistorische Verweise und Bezüge. Die Erdbeeren und eine Kugel mit der Welt als Scheibe in „64“ stammen aus Hieronymus Boschs
berühmtem Gemälde „Garten der Lüste“, die Fragmente der Flügel aus dem „Sturz der gefallenen Engel“ von Pieter Bruegel dem Älteren. Auch die Motive in „Turmbau“
hat die Künstlerin einem Werk des Flamen entlehnt - dem „Turmbau zu Babel“ in seiner wuchtigen Version aus dem Museum Boijmans van Beuningen in Rotterdam.
Wie von der Bey aus diesen Zitaten Eigenes schafft, beeindruckt. Auch wegen des „additiven“ Prinzips, wie sie das fortwährende Erweitern und Ergänzen, das
„Wachsen“ ihrer Arbeiten nennt. Die einzelnen Tafeln mancher Werke lassen sich auf verschiedene Art zusammensetzen. Hoch oder quer - immer passen die Motive
in „45“ auch anders zueinander. Auch die größte Arbeit in Luckenwalde folgt diesem Grundsatz. Seit mehr als zwei Jahrzehnten wächst Annette von der Beys „Turmbau“
nun schon. Gerade hier gehen ihre Arbeitsweise und das Sujet, Konzept und Thema förmlich ineinander auf. Aus Hunderten von kleinteiligen Leinwänden im Format
20 auf 30 Zentimeter montiert und immer noch nicht fertig, ist dieses Bild eine ewige „Baustelle“ und wird somit zum Symbol für den Turmbau an sich. In Luckenwalde
besteht das Werk aus 504 Teilen, ist 11,5 Meter lang und 6,5 Meter hoch. Man steht davor - gebannt.
Martin Stefke
Zuerst veröffentlicht in: Märkische Allgemeine vom 30. August 2010